Anreise durch Norddeutschland
Wir knattern in aller Herrgottsfrühe über die A39 Richtung Hamburg. Hinter uns liegt ein dreimonatiger Lockdown. Es ist Juni und seit Januar hat Corona unser Leben mitbestimmt. Wir mussten unser Fernweh mit dem Lesen von Reiseberichten und dem Schauen von Reise-Dokus irgendwie im Zaum halten. Wegen unserer sogenannten systemrelevanten Berufe im Strafvollzug bzw. im Krankenhaus durften wir wenigstens noch zur Arbeit fahren und unsere Kollegen persönlich treffen.
Nun aber sind wir endlich wieder im Wohnmobil und in Freiheit auf der Straße gen Nordsee unterwegs. Wir gehen davon aus, dass das mit dem Lockdown von nun an der Vergangenheit angehört. Da wissen wir noch nicht, dass es im nächsten Frühjahr noch schlimmer kommen soll mit einem sechsmonatigen Lockdown. Jetzt sind wir aber erstmal zwar noch müde, aber ziemlich froh, dass wir los können. Auch Schleswig-Holstein hat sein Einreiseverbot aufgehoben und die Nordseeinseln dürfen wieder bereist werden. Camping- und Stellplätze durften ebenfalls vor wenigen Tagen wieder öffnen. Glücklicherweise hatten wir den richtigen Riecher und haben trotz Ungewissheit schon vor einiger Zeit Fähre und Stellplatz reserviert.
Ich freue mich darauf, Tatti Föhr zu zeigen. Es fühlt sich gerade auch irgendwie ein bisschen wie meine Insel an. Ich habe Föhr nämlich im letzten Sommer während einer Reha alleine erkundet. Damals fand ich sie zu Beginn gar nicht schön, viel zu grün und zu wenig Strand und Dünen. Dem Watt konnte ich zunächst auch nichts abgewinnen. Ich habe die offene Nordsee mit den hohen Wellen vermisst. Als Föhr und ich uns dann aber wegen der Reha zwangsweise anfreunden mussten, habe ich mich an sie gewöhnt. Und als meine Fähre wieder ablegte, war ich richtig traurig. Ich bin gespannt, wie Tatti es dort findet.
Um sieben durchfahren wir auf der A7 Hamburg. Es ist Montag und leergefegt. In Nicht-Coronazeiten wäre es hier jetzt brechend voll. Der blaue Himmel spiegelt sich im Wasser der Hafenbecken und die Elbkrähne funkeln in der Sonne. Schönes buntes Leben, wir sind wieder da!
Fähre ab Dagebüll
Hoppla, da sind wir schon, an der schönen Nordsee in Dagebüll, fahren das Hügelchen zum Kassenhäuschen hoch und zeigen der heute leicht missmutigen Dame unser Handy-Ticket und den Fahrzeugschein. Die angegebene Fahrzeuglänge stimmt auf den Millimeter genau. Beim ersten Mal musste ich einen Euro neunzehn nachzahlen. Für hundertsechzig Euro kommen wir einschließlich Fahrradträger und Hund nach Föhr und demnächst auch wieder zurück. Das ist uns der Besuch der runden Insel im Watt auf jeden Fall wert.
Wir fahren in den Laderaum der Fähre und stellen den Motor ab. Auf einem Flyer lesen wir, dass wir aus Seuchenschutzgründen während der Überfahrt sogar im Auto bleiben dürften, müssen wir aber nicht und machen wir auch nicht.
Wir drehen zwar erst die Autositze nach hinten, decken schnell den Tisch und verspeisen unsere Frühstücksbrötchen, steigen dann aber aus. Den Mund-Nasen-Schutz behalten wir auf der Treppe auf, setzen ihn aber oben auf dem Deck wieder ab.
Fähre fahren im Corona Sommer
Auf dem Deck schaue ich in maskenlose Gesichter. Ungewohnt, aber herrlich! Es ist verrückt, dass man es besonders toll findet, in der Öffentlichkeit in Gesichter sehen zu können. Ich genieße es sehr, dass Corona hier in den Hintergrund tritt und das Meer so ist wie immer. Dann fällt mir auf, dass die Reisenden Abstand voneinander halten und insgesamt sehr verhalten wirken. Die meisten schauen etwas unsicher um sich. Vom sonst so ausgelassenen Treiben der Urlauber, die sich auf ihren Inselbesuch freuen, ist dieses Mal kaum etwas zu spüren.
Tatti und ich lassen uns auf einer Bank an der Sonnenseite nieder und lehnen uns gegen die Schiffswand mit den Gesichtern zur Sonne, schließen unsere Lider und hören nur das Kreischen der Möwen und das Klatschen des Wassers gegen die Bordwand. Ich bin so froh, dass wir diesen Urlaub machen!
Einige Personen finden, dass man momentan nicht in den Urlaub fahren sollte. Wir aber sind uns sicher, dass wir nirgends so gut Abstand halten können wie bei einem Wohnmobilurlaub. Und wir finden auch, dass wir es verdient haben. Unser Arbeitsalltag ist seit Monaten auf den Kopf gestellt. Wir müssen in der Ambulanz des psychiatrischen Krankenhause bzw. in der Justizvollzugsanstalt ständig umdenken, uns anpassen, unter schwierigeren Bedingungen besser funktionieren als sonst, das große Thema Corona im Leben anderer auffangen und dazu permanent mit dem erhöhten Risiko, dass wir uns anstecken könnten, klarkommen. Und zum jetzigen Zeitpunkt sterben noch sehr viele Menschen daran. Einen Impfstoff wird es erst später geben. Das wissen wir aber ja jetzt noch nicht.
Und nun darf diese kleine Auszeit uns also gerne ablenken und guttun. Und ich denke einfach nicht darüber nach, wer jetzt wohl wie sehr darüber lästern könnte.
Mit dem rechten Auge schiele ich ab und zu auf das Treiben an Deck. Eine zierliche junge Frau mit locker aufgesteckten Haaren und einem kleinen Mädchen auf dem Arm geht vor uns entlang. Vor meiner Nase baumelt ein kleiner Fuß in Minisandalen. Die Frau achtet nicht auf einen kleinen Jungen, der ihr erst folgt und dann links abbiegt. Jetzt schaut er sich um und scheint seine Mutter nicht mehr zu finden. Bevor er zu weinen beginnen kann, gehe ich zu ihm und hocke mich neben ihn, zeige auf die Frau und sage "Guck, da ist sie." Er rennt zu ihr und umarmt ihr Bein.
Ankunft in Wyk auf Föhr
Beim Anlegen sitzt Tatti neben mir auf dem Beifahrersitz und liest den Flyer mit den Corona-Verhaltensregeln an Bord. Ich verstehe nicht ganz, weshalb sie das kurz vorm Verlassen der Fähre noch liest. Auf einem Schild am Miniatur-Leuchtturm steht in großen Lettern Schön, dass sie da sind und ein Stück weiter Willkomnen auf Föhr.
Die Insulaner sind gespalten, hatte ich gelesen. Die einen seien froh, dass die Geisterstunde ein Ende habe und wieder Geld in die Kassen rolle und andere haben die leere Insel und die Ruhe sehr genossen. Unsere Fährmänner sind auf jeden Fall wie immer und winken uns lässig raus aus dem Bauch der Fähre.
Wohnmobilstellplatz Sörensen in Utersum
Ich kenne den Weg zum Stellplatz im Schlaf, was kein Kunststück ist. Von der Fähre runter und immer nur geradeaus, durch zwei kleine Orte bis die Straße endet, weil die Insel zuende ist.
Wir durchfahren das schöne alte Nieblum im Schritttempo. Der Weg ist gesäumt von reedgedeckten Friesenhäusern mit wilden bunten Blumen in den Vorgärten. Wir rumpeln auf Kopfsteinpflaster durch den Ort, überqueren die Kreuzung und ich schaue durch die offene Tür des Cafés Cappuccino auf den Eistresen hinunter. Die Straße ist so schmal, dass wir aufpassen müssen, nicht an einem der kleinen Tische entlangzuratschen. Und Radfahrer rollen und Fußgänger treten immer wieder ohne auf Autos zu achten auf die Dorfstraße. Mütter, Väter, Großmütter, Großväter und Kinder haben nur Augen für das Eis in ihrer Faust oder für das Mietrad, das sie sich gerade erklären lassen. Manche Fußgänger schauen auch unbekümmert in den Himmel, während sie auf die Straße treten.
Die Fahrt vom Fähranleger bis nach Utersum dauert eine Viertelstunde. In Utersum ist kaum Jemand auf der Straße, mal ein Fußgänger, ein Stück weiter ein Radfahrer. Rechts von uns ist ein Edekamarkt, um die Ecke ein kleiner Bäcker und da sind die Schilder zu den beiden Fahrradverleihen, und das war es auch schon fast. Ein oder zwei Restaurants und sonst nur Ferienhäuser oder Wohnhäuser der Insulaner. Und natürlich jede Menge Strand und Natur.
Hier in Utersum ist mein geliebter Wohnmobilstellplatz, auf dem ich im vergangenen Jahr schon drei Wochenenden verbracht hatte. Das nette Ehepaar Sörensen betreibt den Platz mit zweiundsechzig Plätzen, der von Mitte März bis Anfang November geöffnet hat. Man steht auf einer Wiese im Grünen am Rande von Utersum, Deich und Strand gleich nebenan. Die sanitären Anlagen sind supergut und immer tiptop sauber. Frau Sörensen begrüßt uns und marschiert mit uns über die Wiese und zeigt uns einige freie Plätze. Wir entscheiden uns für einen Platz am Rand neben den Kühen.
Tatti holt das Wohnmobil und ich soll sagen, wie sie einparken soll. Wieso eigentlich immer ich? Die Schiebetür zur Abendsonne natürlich. So wie immer. Und die Hecktüren zur Kuhweide, damit wir aus dem Bett Kühe beobachten können und den Waldrand am anderen Ende der Wiese im Auge haben. Der Platz ist ein bisschen abfällig und ruckizucki stehen unsere beiden Vorderräder auf Auffahrkeilen, sind die Sitze umgedreht und mit Decken abgedeckt, stehen Campingtisch und Stühle auf der grünen Inselwiese und der Wasserkessel für den Kaffee drinnen auf der Gasflamme. Und schon sind wir angekommen im Urlaub!
Utersum
Nach dem Kaffee fahren wir mit den Rädern durch Utersum zum Wäldchen hinter der Reha-Klinik, schließen dort an einem Baumstamm die Räder an und sehen, dass gerade Ebbe ist. Wir ziehen die Schuhe aus und marschieren los ins Watt. Diese Weite und Ruhe hier draußen hat etwas sehr Entspannendes. Man kann in alle Richtungen gehen. Der nasse Sand ist weich unter den Füßen. Ab und zu plätschern die Schritte in Wasserlachen. Stundenlang könnte ich mit dem Blick auf den Boden rosa Muscheln in Herzform suchen und die Zeit vergessen.
Eigentlich war ich erst ein bisschen traurig, dass wir wegen Corona die ganze Zeit an einem Ort bleiben müssen, aber hier draußen im Watt bei leichtem Sommerwind löst sich meine Wehmut gerade in Wohlgefallen auf. Der Nordseewind trägt alle Zweifel fort. Sie verlieren sich irgendwo in der Weite des Watts da draußen. Und zurück bleibt pure Inselliebe.
Als wir wieder auf die Räder steigen, denke ich, wie fein es ist, dass es erst Mittag ist und wir schon so viel erlebt haben. Heute morgen sind wir noch zu Hause wach geworden, sind seitdem schon durch den Elbtunnel gefahren, haben eine Schifffahrt auf der schönen Nordsee gemacht, unser Zuhause am Rande der Kuhwiese eingerichtet, drei Kühe als neue Nachbarn kennengelernt, eine Radtour durch Utersum gemacht und sind barfuß durch das Watt gelaufen. Und ich könnte schwören, dass meine jüngere Tochter in ihrer WG noch schläft.
Wir radeln über das Klinikgelände. Es ist momentan geisterhaft hier. Wegen der Pandemie herrscht auch hier Ausnahmezustand. Reha ist gerade zweitrangig. Keine Menschenseele ist zu sehen. Das Gras steht hoch und die Hasen belagern in Massen die Grünflächen. Und am Strandabschnitt vor der Klinik, wo normalerweise Reha-Gäste herumgehen oder sitzen, könnte man meinen, dass man auf einer einsamen Insel gestrandet ist.
Unser Strand
Nachmittags gehen wir vom Stellplatz aus zu unserem Strand. Vom Platz aus sehen wir den Deich schon. Wir sind nach vier langsamen Gehminuten am Deich angekommen. Kommt man den Deich hoch, sieht man entweder Wasser oder Watt. Ich lasse mich meistens überraschen, schaue nicht vorher nach, ob gerade Ebbe oder gerade Flut ist. Ich finde beides sehr schön. Jetzt sehen wir wieder hauptsächlich Watt. Was man aber bei einigermaßen klarer Sicht immer sieht, sind die beiden vorgelagerten Inseln. Links vor uns liegt Amrum und rechts Sylt. Der helle Strand und die Dünen von Amrums Nordspitze sind heute zum Greifen nah.
Auf dem Deich angekommen, gehe ich erstmal ein paar Meter nach links zu den beiden Utersumer Webcams, die weit oben an einem Pfahl vor dem Strandrestaurant Treibholz angebracht sind. Ich schicke meinen Töchtern den Webcam-Link und grinse hoch und winke. Diese Marotte ist ein Überbleibsel von meinem Reha-Sommer. Ein bisschen wie E.T. stand ich letzten Sommer öfters hier. Und wenn eines der Mädels die Nachricht gerade mitbekommt und mich auf der Seite des Föhrer Fremdenverkehrsbüros wie eine Irre winkend vor der Webcam entdeckt, freuen wir uns wie kleine Kinder. Und da kommt auch schon eine Nachricht aus der Oldenburger Studenten-WG Menno, ich will jetzt auch am Strand sein. Ach, doch schon wach.
Wir sitzen einfach nur da auf der Bank auf dem Deich. Und gucken nach Amrum rüber und beobachten Menschen im Watt. Und sonst nichts. Herrlich. Links von uns liegt der beschauliche Utersumer Badestrand mit Strandkörben und rechts ist die Pforte zum Marschland mit Schafen, Weite und verlassenen Straßen und Wegen.
Dreißig Gehminuten nach rechts ist das Café Wattenläufer, das zum Minidorf Dunsum gehört. Man kann von dort aus auch acht Kilometer nach Amrum wandern.
Hier am Strand ist das schön Strandrestaurant Treibholz, mit einer Holzterrasse und Meerblick.
Und der Strand hier ist der beste Ort zum Sonnenuntergang ansehen. An wolkenlosen Sommertagen ist hier abends eine Stunde lang viel los. Ein Stück weiter steht sogar eine Sonnenuntergangsbank, auf der zwanzig Leute Platz haben.
Abends gibt es Spaghetti Bolognese mit Parmesan von der Superminireibe. Und danach stoßen wir auf das vermeintliche Ende der Pandemie an, was sich natürlich nicht bewahrheiten wird. Aber da wir ja noch keine Ahnung vom Lockdown im nächsten Jahr haben, feiern wir, dass Corona unserer Meinung nach in Kürze der Vergangenheit angehören würde.
Und dabei wird unser Föhr-Aufenthalt im nächsten Jahr noch viel skurriler mit ständigen Tests und totaler Kontrolle, wer wann wo ist und so. Dann werden wir nämlich im Rahmen eines Schleswig-Holstein-Modellprojektes mit superstrengen Regeln zu total überwachten Urlaubern. Ungelogen. Verrückt, oder? Ich werde auch davon berichten. Aber jetzt genießen wir - wie gesagt- erstmal die positiven Vibes der Befreiung aus den Fesseln.