Giethoorn und Werribben-Wieden
Nun ist es also soweit. Ich bin das erste Mal etwas länger alleine unterwegs mit dem Wohnmobil. Ich fahre über die Grenze und höre alte holländische Schlager. Ja, ich weiß, dass man Niederlande sagt. Ich sage trotzdem Holland. Hier ist der Verkehr gleich viel entspannter. Die Autobahn ist gut ausgebaut und schön leer. Und wegen der hohen Bußgelder halten sich alle an ein moderates Tempo.
Stolz throne ich auf meinem Fahrersitz. Aufgeregt bin ich schon. So als alleinreisende Frau. Aber ich kenne Holland, spreche Holländisch und habe ein Navi. Was also könnte da noch schief gehen?
Camping de Stouwe in Giethorn
Nach dreihundertsiebenundziebzig Kilometern stehe ich vorm Camping de Stouwe in Giethorn. Der Platz liegt tiefer und ich muss erstmal in Schräglage stehenbleiben.
Vor mir ist ein großes Loch im Weg und zwei ältere Männer schieben einen schweren Betondeckel darauf. Schließlich winkt mich der kleinere der beiden Männer heran und ich steige aus. Er zeigt mir den Platz und ich entscheide mich für eine Parzelle am Wasser.
Dann hole ich das Wohnmobil, muss aber schon wieder nach wenigen Metern vor einem Dachvorsprung halten. Ich stecke den Kopf aus meinem Fenster und frage, ob es noch einen anderen Weg gibt. "Dat gaat wel, ga mal" , höre ich. Das geht schon? Fahr mal? Im Ernst? Wenn Tatti hier wäre, hätte ich schon längst wieder hilflose Laute von mir gegeben. Nun aber vertraue ich den Handzeichen der beiden Männer und fahre langsam und mit einem dezenten Schlenker knapp an der Ecke vorbei. Ich bin der mutigste Mensch der Welt.
Ich setze mich erstmal mit einem Becher Kaffee vor das Wohnmobil schaue mich um. Die Zweige sind kahl und das Gras ist strohig. Der Platz will scheinbar noch nicht so recht aus dem Winterschlaf erwachen. Und der Platz ist in die Jahre gekommen. Er bräuchte mal junge Leute mit Energie und Visionen. Neben mir führt eine baufällige Fußgängerbrücke ans andere Ufer in die Weite des Nationalparks Weerribben-Wieden.
Ich atme ein paarmal tief ein und wieder aus. Am Liebsten würde ich jetzt alles gleichzeitig machen...Kaffee trinken, Holland-Reiseführer studieren, in meinen mitgebrachten Zeitschriften blättern, Kreuzworträtsel lösen, abhängen, Musik hören, allen Freundinnen schreiben, dass ich eine Heldin bin, einen Kuchen backen, gegenüber im Naturschutzgebiet radeln und natürlich auch unbedingt durch Giethoorn schlendern.
Der kleinere Holländer holt mich aus meinen Tagträumen um mir zu erzählen, dass ich mir ein Fluisterboot nehmen und damit nach Giethoorn schippern kann. Das ist ein Elektroboot. Fluistern heißt flüstern.
Dass ich mich das nicht traue, sage ich ihm. Da lacht er mich doch glatt aus. "Ja, echt", sage ich. "Du fährst dieses große Wohnmobil und traust dich nicht mit einem Fluisterboot zu fahren?" Ja, Mann! Weil man im Wasser nicht bremsen kann.
Mit dem Rad bin ich in fünf Minuten in Giethoorn. Ich schiebe mein Fahrrad an einer breiten geraden Gracht entlang, auf einem Fußweg, der immer wieder über kleine Holzstege führt.
Am gegenüberliegenden Ufer stehen typische Hollandhäuser. Ich hatte vorher überwältigende Fotos von Giethoorn gesehen. Es ist nicht annähernd so schön wie auf den Fotos, was wohl am Wetter und an der Jahreszeit liegt. Aber es ist ganz nett. Und ganz schön voll.
Ich gehe an vielen Cafės mit netten Außenterrassen entlang, schaue mir die Wohnhäuser an und sehe mich in einem Käseladen um.
Auf breiten Holzstufen am Wasser esse ich ein Eis aus Weidenmilch mit Minimarshmallows und Caramelsauce. Lecker!
Ein kleiner Junge in einem vorbeifahrenden Boot steckt mir die Zunge raus. Tststs. Hallo! Gehts noch?
Hinter der Häuserreihe liegt ein großer See. Dort könnte ich mir bei einem Pavillon mit Cafė-Restaurant ein Boot ausleihen und mir auch gleich eine sogenannte Borrelbox mitgeben lassen, eine Art Picknickkorb.
Die Borrelbox ist zum Borellen. Borellen machen die Holländer nachmittags gegen fünf. Dann wird Alkohol, oftmals Wein getrunken, dazu werden herzhafte Käse- und Wursthäppchen serviert und man erzählt sich vom Tag, kann kommen, was wolle.
Schade, dass ich alleine bin. Borrellen auf einem Boot draußen im Naturschutzgebiet stelle ich mir richtig schön vor. Dazu hätte ich heute auf jeden Fall Lust! Aber doch nicht alleine!
Am Ende des Ortes biege ich links ab und radle ohne Boot und Borrelbox hinaus in die Einsamkeit und Weite des Naturschutzparks Weerribben-Wieden.
Die Wiesen sind von zahlreichen Wassergräben durchzogen. Auf einer Fußgänger- und Fahrradfahrerbrücke orientiere ich mich in Google Maps und beschließe, um den See Bovenwijde zu fahren.
Ich genieße die Ruhe auf dem Rad und den Wind auf meinen Armen und im Gesicht und die immer mehr durchkommende Frühlingssonne. Ich sehe Vögel und ab und zu ein paar Kinder, die in kleinen Booten unterwegs sind. Die gleichmäßigen Bewegungen, das Dahinrollen und nicht auf den Weg oder Autos achten zu müssen tut gut!
Nach viel Natur, einem verlassenen Dorf und sechzehn Kilometern bin ich fast rum um den See und kurz vorm Campingplatz. Ich setze mich auf eine Bank im Schilf und bin ganz alleine. So ganz alleine in der Natur, quasi als Single-Ornithologin, ist der Himmel eindeutig höher und der Horizont weiter und die Wiesen sind unendlicher! Der Wind rauscht lauter und die Schreie der Vögel sind näher an meinem Ohr! Wow! Das ist eine neue Erfahrung für mich.
Ich habe mich bisher eigentlich immer gefragt, weswegen Leute Vögel beobachten. Jetzt beobachte ich sie und finde es nicht einmal uncool. Ich stelle fest, dass sie auch soziale Wesen sind. Sie wollen es genauso wie wir ja auch einfach nur gut haben, wobei sie in einem Punkt schonmal mehr Glück haben als wir: Sie können fliegen.
Zurück beim Wohnmobil kommt der kleine Holländer wieder zu mir. Er sagt, dass ich um sieben auf die marode Brücke kommen soll. Er sagt natürlich nicht "marode". Das denke ich nur. Da könne ich nämlich Rehe beobachten. Wie niedlich er sich bemüht!
Ich gehe also um sieben auf die Brücke. Nicht wegen der Rehe, sondern für den netten Mann. In meiner Heimat sehe ich häufiger Rehe, aber ich weiß, dass das in Holland superselten vorkommt. Meine holländischen Besucher in Deutschland waren immer völlig aus dem Häuschen, wenn sie ein Reh, oder noch besser, einen Greifvogel in freier Wildbahn entdeckt haben.
Mit dem Mann und mir zusammen steht ein junges deutsches Paar auf der Brücke. Wir beobachten Rehe in der Ferne und plaudern. Ich erfahre, dass der Betreiber des Platzes krank ist und der nette Mann sein Onkel ist und ihm hilft.
Früher habe sein Neffe alles alleine gemacht. Jetzt ist er so krank, dass er es nicht mehr schafft. Unsere Rehbrücke hat er selber gezimmert. In den schönen alten Zeiten war hier viel Leben, man konnte am Ufer anlegen und am Kiosk etwas kaufen. Ich gucke zum Kiosk. Er ist zugewuchert. Der nette Holländer erzählt und erzählt und ich höre ihm zu und zeige Mitgefühl. Er wünscht sich die gute alte Zeit so sehr zurück und sein Neffe tut ihm so leid. Der kleine Holländer kommt in jeder Saison mit seinem Wohnwagen und seiner Frau hierher und hilft seinem Neffen auf dem Platz.
Dann steige ich nachdenklich ins Wohnmobil, schreibe Reisetagebuch und lege danach die Füße hoch und sehe fern. Während der Fernseher läuft, höre ich hinter mir das Lachen und Geschnatter der Leute auf den vorbeiziehenden Booten. Ich kann durch die Windschutzscheibe auf die Gracht schauen. Total witzig, die ganzen Boote vor meiner Windschutzscheibe, die ja gerade mein Wohnzimmerfenster ist.
Beim vierten kiechernden Flüster-Boot da draußen hält mich nichts mehr drinnen. Fernsehen kann ich auch zuhause. Ich ziehe Schuhe und Jacke wieder an und stiefele los, gehe dieses Mal in die andere Richtung und streune durch Wiesen und ein altes Wohngebiet bis es zu dunkel wird.