Auf dem Bahnsteig und im Personenzug ist es ruhig und leer. Die meisten Urlauber reisen momentan scheinbar mit Auto und sitzen jetzt in ihren Autos draußen.
Der Zug fährt erst eine Weile durch das Vorland und dann über den Hindenburgdeich. Nun ist um uns herum nichts als Wasser. Große Fenster an beiden Seiten ermöglichen uns eine gute Sicht. Es ist, als durchschneide unser Zug die Nordsee auf dem Weg nach Sylt.
Tatti fährt das erste Mal in ihrem Leben nach Sylt. Sie hat lauter Vorurteile und wollte da nie hin. Ich bin gespannt, ob sie vielleicht doch noch Gefallen finden kann an der Schönheit der Insel und an den tollen Friesenhäusern und Einkehrmöglichkeiten.
Westerland und Wenningstedt
Auf Sylt angekommen, schieben wir die Fahrräder vom Bahnhof Richtung Meer und kommen durch Westerlands Fußgängerzone. Die meisten Geschäfte sind geschlossen. Der Wind kommt vom Strand die Straße herunter und pfeift uns entgegen. Sylt, du begrüßt uns ganz schön stürmisch. So sind Nordseeinseln eben oft. Die Geschäfte sehen schonmal ganz normal aus, nicht exklusiv.
Ich beobachte Tatti aus den Augenwinkeln und es amüsiert mich, dass sie etwas verwirrt aus der Wäsche schaut. Ich glaube, sie hat mit mehr Glamour gerechnet. Mit teuren Marken und hochnäsigen Passanten oder so vielleicht. Oben an der Strandpromenade stoppen wir und schauen auf den Strand.
Wir fahren an der Westseite der Insel gen Norden und legen in Wenningstedt einen Halt ein. Hier ist ein großes Fischrestaurant mit Panoramascheiben und ein schöner Strand.
Die lebensgroßen sogenannten Alltagsfiguren sind lustig anzusehen Sie sollen dem Schönheitswahn entgegenwirken.
Danke, Sylt, für den nächsten Anti-Glamourpunkt. Tatti guckt sie sich auf jeden Fall schon sehr interessiert an.
Uns ist es noch zu früh für Fisch und wir holen uns bei einem Bäcker im Wohngebiet Rosinenbrötchen. Auch beim Bäcker kein Glamour.
Wir fahren auf der alten Inselbahntrasse, die durch die Dünen bis zum Ellenbogen geht. Hinter Wenningstedt sind wir auch schon raus aus dem Trubel. Die meisten Urlauber halten sich in den Ortschaften auf, und zwar den Orten an der Westseite der Insel.
Es ist aber auch auf den Radwegen ganz schön viel los. Die Leute haben sich so lange danach gesehnt, nach Sylt zurückkehren zu können und nun ist Pfingsten und man darf wieder herkommen.
Wir fahren die ganze Zeit durch die Dünen und immer wieder an schönen reedgedeckten Friesenhäuser mit Sprossenfenstern vorbei.
Die Dünenlandschaft lässt mich an Sommerurlaube als Kind und an lange Strandtage an der Nordsee denken, und es ist schön, wieder mittendrin zu sein. Wir sehen kaum Autos und Tatti sagt, dass sie die Radstrecke durch die Dünen schön findet.
Uwe-Düne
An der höchsten Erhebung der Insel, der Uwe-Düne in Kampen, stellen wir die Räder wieder ab und auf dem Fußweg zur Düne rennt uns eine asiatische Influencerin mit grellrotem Lippenstift, die sich gerade mit Selfie-Stick filmt, beinahe um.
Wir gehen die einhundertneun Stufen der Holztrepppe hoch auf die Düne und haben einen tollen Rundumblick über die Kampener Dünen, die Nordsee und bis an die Grenzen Sylts.
In der Ferne können wir auch unser nächstes Ziel, den Ellenbogen, erkennen.
Den Namen hat die hohe Düne von Uwe, einem Sylter Landvoigt, der sich vor zweihundert Jahren für freiheitliches Denken eingesetzt hat. Uwe Lornsen. Asche über mein Haupt! Ich dachte, Uwe war ein Partylöwe aus den Siebzigern. Wie schlicht meine Denkstrukturen manchmal sind. Echt erschreckend.
Hier oben sind auch Ferngläser und bei klarer Sicht kann man über Sylt hinweg bis zum deutschen und dänischen Festland und bis zur dänischen Insel Rømø gucken.
Das rote Kliff
Unten an der freiheitlich denkenden Uwe-Düne biegen wir links Richtung Meer ab und gehen über einen Holzbohlenweg zur Kante des roten Kliffs.
Dreißig Meter hoch ragt das Kliff über den Strand hinaus. Der Lehmkies sieht rötlich aus und ist ein markantes Markenzeichen von Sylt. Wir gehen oben entlang.
Hohe Wellen bewegen sich mit tosendem Lärm auf den Strand zu. Ich hatte vergessen, wie kraftvoll die Nordsee ist.
Ein Stück weiter führt eine lange Holztreppe mit mehreren Absätzen weit hinunter zum Kampener Strand. Von hier oben sind die Pfingst-Spaziergänger am Strand kleine Figuren, die dem Wind dort unten so nah am Wasser gnadenlos ausgesetzt sind.
Das rote Kliff ist vier km lang und geht von Kampen, wo wir jetzt sind, bis nach Wenningstedt. Es ist abbruchgefährdet, was regelmäßige Sandvorspülungen erfordert.
Der Zauber des Ortes soll abends noch schöner sein, wenn die Abendsonne den Sandstein rot leuchten lässt.
Alte Inselbahntrasse und die Lister Wanderdünen
Dann radeln wir weiter auf dem schönen breiten Radweg durch die Dünen Richtung Nordspitze der Insel. Es geht wellenartig hoch und runter und wieder hoch und so weiter.
Bei den Lister Wanderdünen stoppen wir wieder. Das ist auch noch so ein Phänomen, das mich fasziniert. Die Dünen wandern bis zu zehn Meter im Jahr und haben schon Ackerflächen unter sich begraben und dafür gesorgt, dass Straßen versetzt werden mussten. Man versucht nun, sie durch das Pflanzen von Strandhafer aufzuhalten.
Der Sylter Ellenbogen
Wir biegen im Norden der Insel ein in das Naturschutzgebiet des Ellenbogens. Hier geht die Straße weiter durch die Dünen und es gibt keine Ferienhäuser mehr, aber von Einsamkeit ist keine Rede. Die Straße ist voller Autos und Fahrradfahrer. Natur genießen ist was Anderes.
Rechts vom Ellenbogen, im ruhigen Wasser zwischen Ellenbogen und dem Rest der Insel, sehen wir bunte Punkte am Himmel und im Wasser, die Sylter Kite- und Windsurfer.
Nach gut fünf Kilometern ist die Straße zu Ende und wir gehen auf den nördlichsten und einen der bekanntesten und meistgefilmten Strände Deutschlands, den Ellenbogen.
Und Hannes hat nichts Besseres zu tun als einen Haufen in den Durchgang zum Strand zu setzen. Ellenbogen hin under her. Sylt hin oder her. Hannes ist das egal.
Ich finde das lustig und Tatti sammelt den Haufen ein. Ich ziehe meine Schuhe aus und gehe barfuß im Wasser neben Tatti und Hannes um den Ellenbogen herum.
Der Strand ist recht leer und ganz schön windig. Ich schaue rüber nach Römö und denke, dass das Dänemark ist und dass dahinter Norwegen liegt und wann wir endlich auch wieder überall hinfahren können.
Wie gerne hätte ich mal ein paar Monate am Stück Zeit zum Reisen durch Europa. Aber das wird wohl noch einige Jahre dauern. Für Dänemark hätten wir allerdings noch Zeit. Das aber scheitert daran, dass mein Perso weg ist, und Tati diesbezüglich recht unlocker ist. Ich würde auch ohne Persönliche nach Dänemark fahren. Aber erstmal scheitert es sowieso schon daran, dass die Grenzen nach Dänemark coronabedingt noch geschlossen sind.
Wir spazieren einmal um Sylts Spitze und kommen von der anderen Seite durch die Dünen zurück zu den Rädern.
Backfischbrötchen am Lister Hafen
Dann radeln wir durch das Naturschutzgebiet zurück zur Zivilisation und dann auf dem Deich entlang nach List.
Dort ist es sehr voll, so dass wir auf gar keinen Fall in das Restaurant von Gosch gehen, sondern uns draußen einen Snack holen. Nicht gerade günstig, aber das wussten wir ja auf Sylt.
Wir genießen knusprige frittiere Fischhappen aus einer dreieckigen Tüte und zwar auf einer Bank in einigem Abstand zu den Leuten. Und das ist auch gut so, denn später müssen tausend Gäste in Quarantäne, weil einige Mitarbeiter des Restaurants positive Testergebnisse haben! Das wird gemeinerweise mit Schadenfreude in Deutschland Schlagzeilen machen. Menschen sind momentan so, urteilen schnell und hart über die, die in Coronazeiten Urlaub machen. Und jetzt ausgerechnet auf Sylt so ein Corona-Supergau! Wir haben also großes Glück, dass wir nicht ins Restaurant gegangenen sind, und dürfen daher unseren Urlaub fortsetzen.
Keitum und Morsum
Von List aus fahren wir achtzehn Kilometer über Fahrradwege auf der Ostseite der Insel zurück zur Inselmitte und kommen durch die verschlafenen kleinen Orte Braderup und Munkmarsch. Wer Natur liebt und entschleunigen will, kommt hierher zur Wattseite. Schöne kleine Strände gibt es auch. Links von uns taucht erst eine Vogelkoje und dann die Braderuper Heide auf.
Wir schließen unsere Radrunde um den Nordteil der Insel mit einem Besuch im hübschen Garten der Kleinen Teestube in Keitum mit Marzipan- und Käsekuchen ab. Es gibt dort sämtliche handverlesene Teesorten, auch zum Kauf, und täglich frische Kuchen und Torten von der eigenen Konditorin.
Wir sitzen mit unseren Kuchengabeln zufrieden und mit müden Beinmuskeln zwischen blühenden Blumen und Büschen und ich nehme mir ganz fest vor, wirklich irgendwann auch mal mit dem Wohnmobil nach Sylt zu kommen.
Ich muss mir nur noch überlegen, wie ich Tatti dazu überredet bekomme, dass einer von uns (wahrscheinlich sie) auf den Syltshuttle fahren müsste. Aber zur Not könnten wir ja auch per Fähre über Rømø kommen.
Nach dem schönen Teestubenbesuch radeln wir nach Morsum und steigen dort mit unseren Rädern in den Zug zurück nach Niebüll.
Wir sind heute eine Sechzig-Kilometer-Runde um Sylts Nordhälfte gefahren. Und die zwanzig Kilometer Gegenwind zählen doppelt. Trotz Ebikes.
"Und?", frage ich Tatti im Zug zurück auf dem Hindenburgdamm "Wie findest du Sylt?" Sie schaut aufs Wasser und sagt "Ja" ohne mich anzusehen. Das ist typisch Tatti. Bloß nicht mit mehr als einem Wort zugeben, dass sie sich geirrt hatte.
Ich grinse und freue mich darauf, irgendwann einmal die Südhälfte Sylts bis Hörnum mit ihr auf den Rädern zu erkunden.
Am Abend machen wir es uns in unserer Butze gemütlich und gehen früh schlafen, sind gut ausgepowert und voller schöner Eindrücke unserer dritten Insel, die wir mit in unsere Träume nehmen.