Morgens um neun in Castellane
Wir stehen in Ruhe auf und machen alles wieder startklar. Tatti bewegt das Wohnmobil ein paar Meter weiter zur Servivestation und füllt unsere Frischwasservorräte auf.
Derweil gehe ich zum Bäcker. Ich genieße das immer total morgens durch unbekannte Orte zu gehen, genieße die Stille und das langsame Erwachen der Straßen.
Die wenigen Menschen, die ich zu Gesicht bekomme, sind noch müde und gedankenverloren und ganz bei sich. Früh morgens zeigt ein Dorf oder eine Kleinstadt ein kleines bisschen mehr sein echtes Gesicht, finde ich. So, jetzt bin ich beim Bäcker. Wie jetzt? Alles dunkel? Hm. Hat der doch glatt zu. Ich check im Handy den Wochentag. Es ist Freitag. Merkwürdig.
Ich google und finde weder einen Bäcker noch ein Lebensmittelgeschäft. Nichts ist geöffnet. Komisch, denke ich, es ist doch gleich neun. Wir haben kein Brot mehr und ich möchte so gerne nochmal auf dem Weg nach Annecy picknicken. Heute ist vielleicht der letzte warme Tag für uns in diesem Jahr. In drei Tagen sind wir wieder im November und in Norddeutschland. Im Schmuddelwetter also.
Ich bin überzeugt, dass es hier irgendwo Baguette geben muss. Aber ich muss ganz schön suchen, mache einen flotten Marsch quer durch den alten, verlassenen Ortskern. Mir wird richtig warm. Frühsport unter der Notre-Dame-du-Roc, die da oben noch im Nebel pennt. Mein Kreislauf ist jetzt auf jeden Fall in Schwung.
Dann entdecke ich einen kleinen Laden in einem alten Eckhaus an einer Kreuzung. Ich erkenne, dass hinter den beschlagenen Scheiben Menschen an Tischen sitzen. Ich komme näher und sehe, dass sie Kaffee trinken und an einer Tür Pain (Brot) steht. Jippieh!
Ich trete ein und es riecht nach frischen Backwaren. Es entpuppt sich als entzückend hergerichteter Bioladen mit regionalen Lebensmitteln. Ich kaufe bei einem superfreundlichen Paar einen Arm voller Dinge: Baguette, Croissant und selbstgebackene Stücke, die ich nicht kenne. Als ich draußen bin, drehe ich mich nochmal um und merke mir den Namen. La Maison Bio.
Wir fahren aus dem Ort heraus und es geht bergauf und raus aus dem Nebel so wie gestern Morgen. War das wirklich erst gestern? Ich drehe mich nochmal um und als ich genau hinsehe, entdecke ich in der Ferne die klitzekleinen Umrisse der Kapelle, wie sie hoch oben auf ihrem Felsen aus dem Nebel herausragt. Das ist so cool, dass sie sich nochmal zeigt!
Au revoir belle Provence et merci... Auf Wiedersehen, schöne Provence, und danke!
Route Napoléon
Bis nach Annecy haben wir dreihundertdreiunddreißig Kilometer vor uns. Das ist eine moderate Tagesetappe für die Rückreise, kein bisschen anstrengend. Wir sind auf der Route Napoléon (N85) Richtung Grenoble unterwegs.
Die Nationalstraße 85 ist die Marschroute Napoleons als er in Frankreich die Macht zurückerobern wollte.
Er soll mit seinen Truppen nur sieben Tage vom Meer bis nach Grenoble gebraucht haben und sei damals auch in Castellane im jetzigen Museum für Volkskunst und Volkstraditionen zum Mittagessen eingekehrt.
Picknick am See Plan d´Eau du Riou
Nach einer guten Fahrstunde meldet sich der Frühstückshunger. In der Park4night-App entdecke ich einen schönen Picknickplatz neben unserer Strecke, der an einem Stausee liegt.
Wir verlassen die N85, fahren unter einer kleinen Unterführung hindurch und ...
... schauen auf einen idyllisch daliegenden Stausee, den Plan d´Eau du Riou.
In unserer klappbaren Abwaschschüssel tragen wir alles, was wir zum Frühstücken brauchen, zum See hinunter, nehmen dort einen kleinen wie für uns gemachten Holzsteg ein und genießen das Picknick auf dem See mit Bergblick.
Nach einer Weile lege ich mich mit meinem Croissant auf den Rücken und schaue mit halb zugekniffenen Augen in die Sonne.
Irgendwann taucht Tattis Schatten vor der Sonne auf und ich höre sie sagen „Komm, lass uns weiter.“ Hm. Schade. Aber na gut.
Massif des Écrins
Die nächsten zweihundertvierungzwanzig Kilometer überraschen uns wirklich sehr. Wir waren auf langweiliges Kilometerabreißen eingestellt. Und nun ist die Landschaft hier südlich von Annecy um Saint-Maurice-en-Trièves herum so wunderschön!
Wir müssen einfach anhalten und verweilen. Bei geöffneter Schiebetür könnte man mal wieder mal meinen, wir stehen vor einer Wand mit einem Werbeplakat.
Das müsste das Bergpanorama des Écrins-Massivs sein. Ich stelle fest, dass mich die Berglandschaften des Südostens Frankreichs immernoch in ihren Bann ziehen. Schon mit Anfang zwanzig habe ich mehrere Sommer hintereinander am Lac de Serre-Ponçon weit hinter dem Massif wild gecampt.
Wie konnte ich nur vergessen, wie überwältigend es hier ist? Dort links muss irgendwo der Gipfel von Frankreichs südlichstem Viertausender, dem Barre des Écrins, sein.
Er soll der dominanteste Viertausender Frankreichs sein. Ich frage mich, ob es der kleine Zipfel ist. Ich hätte jetzt auch richtig Lust, dort hinzufahren und nachzusehen.
Aber auf Annecy freue ich mich auch total. Das wird bestimmt wieder so ein Highlight.
Annecy
In Annecy beim Stellplatz unten am See stoßen wir auf ein Meer von Autos und Wohnmobilen. Der kleine Stellplatz und ein angrenzender Parkplatz sind überfüllt. Wohnmobile und PKWs stehen kreuz und quer. So ein Mist!
Von hier sind es nur fünfzehn Gehminuten in die Innenstadt. Es gibt einfach keine Alternative. Deswegen manövrieren wir das Wohnmobil zwischen den geparkten Autos hindurch bis in eine Ecke und verhandeln dort mit einem deutschen Camper, ob wir uns vor sein Fahrzeug stellen können, wenn wir morgen sehr früh abreisen. Der Deutsche muckelt erst ein bisschen rum. Ich bettele, dass wir uns Annecy doch auch sehr gerne ansehen würden. Aber mir vergeht eigentlich gerade die Lust an Annecy. Er geht und fragt seine Frau, kommt zurück und sagt "Na gut".
Ich steige zu Tatti ins Wohnmobil und während ich ihr das erzähle, merken wir beide, dass wir hier nicht sein wollen. Wir hätten doch zum Bergzipfel fahren sollen.
Zurück auf der Uferstraße finden wir es dann aber doch irgendwie zu schade, gleich wieder abzuhauen. Ich entdecke in meiner Google Map eine Parkfläche, etwas abseits bei einer Kirche auf einem Hügel. „Lass es uns bei dieser Kirche da oben auf dem Hügel versuchen“, sage ich zu Tatti. „Vielleicht können wir da wenigstens parken und mit den Rädern wieder runter in die Stadt fahren und danach außerhalb einen Schlafplatz suchen“, schlage ich vor.
Die Kirche entpuppt sich als Basilika de la Visitation und der Platz als genial. Auf dem leeren Vorplatz steht ein Hymer-Wohnmobil aus Alzey bei Worms und die Tür steht auf. Ich erkundige mich bei den ausgesprochen netten Wormsern, ob das Parken erlaubt ist und wo der Parkautomat ist und erfahre, dass es erstens nichts kostet, man zweitens über eine Treppe in zehn Minuten in der City unten ist und drittens Niemand meckert, wenn man dort übernachtet, solange die Basilika den Parkplatz nicht benötigt. Ich freue mich sehr und Tatti findet es auch cool hier. So können wir in Ruhe die Stadt ansehen und müssen heute nicht mehr fahren. Und die Räder können auch auf dem Auto bleiben.
Wir gönnen uns erstmal in Ruhe einen Kaffee, snacken die restlichen Backwaren und steigen danach die Treppen hinunter in die City und zum See. Und jetzt bin ich doch echt froh, dass wir nicht gleich aufgegeben haben, und bin total gespannt auf Annecy.
Annecy Cityrundgang
Wir schlendern erstmal durch die Fußgängerzone. In den Läden dreht sich alles um Wintersport und die Schaufenster und Läden haben einen Hauch von Nostalgie und wirken verspielt.
In der Fußgängerzone ärgert mich mein Handy doch tatsächlich! Es spielt plötzlich in meiner Tasche - ich habe keine Ahnung, weshalb - in voller Lautstärke Son of a Preacher Man. Ich höre es zwar, schnalle aber nicht, dass ich das bin.
Ich schaue die ganze Zeit um mich herum, und denke, was für ein Problem Jemand haben muss, der in einer vollen Fußgängerzone dieses Lied so laut abspielt.
Dann stupst Tatti mich an und fragt, ob ich das nicht mal wieder ausmachen will. Oh Shit! Hastig krame ich nach meinem Handy und stoppe die Musik. Wie peinlich!
Wir schlendern zu einer Brücke am Fluss Thier und erfreuen uns an den Blumenkästen mit überbordenden Blumen und an dem Blick den Fluss hinunter Richtung See. Wir sehen mehrere Brücken hintereinander und an den Ufern die alten Häuser in schönen Farben.
Dann gehen wir am Ufer entlang Richtung See, dem Lac d´Annecy. Auf dem Fußweg am Fluss entlang stehen dicht an dicht Restauranttische. Und es fliegen so viele Mücken herum, dass ich kaum einatmen mag. Komisch, dass das die Restaurangäste, die hier sitzen und essen, nicht abgeschreckt hat.
Ich fotografiere alles Mögliche und das macht echt Spaß hier. Jetzt noch ein Foto vom dreieckigen Gebäude im Fluss Thiou, den Palais des Isle, eines der beliebtesten Fotomotive Annecy.
Dann beobachten wir eine Zeitlang das Treiben auf dem größeren Platz zwischen See und Altstadt und das rauschende Wasser, das aus dem See in den Flus fließt.
Schließlich gehen wir durch den Jardin de l´Europe, einem kleinen Park am See, zur Brücke für Verliebte, der Pont des Amours. Küsst man sich auf der Pont des Amours, bleibt man für ewig vereint, heißt es. Ich erzähle es Tatti und sage, „süß, oder?“
Der See liegt türkis da und im Hintergrund vervollkommnen die Berge den Blick. Annecy hat eine Premium Lage mit dem See und den Bergen.
Ist ja schon wichtig, dass man sich dann auch küsst, wenn man als Paar schonmal bei der Pont des Amours ist. Finde ich. Und Tatti geht schonmal weiter zum dahinter liegenden Canal du Vassé.
Dann muckele ich ein bisschen rum und wir werfen noch kurz einen Blick auf den Kanal. Nicht nur Tatti, sondern auch der Herbst hat hier schon ein bisschen die Romantik vertrieben.
Der Rückweg über die Treppen ist nochmal ein bisschen anstrengend, aber es geht.
Basilique de la Visitation
Als wir wieder oben sind, schaue ich mir die Basilika genauer an. Sie steht stolz, schlank, schlicht und mit einem sehr hohen Turm auf diesem Berg. Ich mag das. Sie ist Teil eines Klosters, dass sich an ihrer Rückseite zum See hin befindet. Ich gehe die Stufen zum Eingang hoch und ein Stück um die Basilika herum.
Im Innenraum der Kirche überraschen mich Marmorsäulen und viel Glitzer und Verzierungen. Steht irgendwie im Kontrast zum schlichten Äußeren. Ich höre Gesang und gehe in die Richtung, aus der er kommt. In einem kleineren Nebenraum vorne neben dem Altar findet eine religiöse Zeremonie statt. Man kann durch eine Glaswand zusehen. Ich stehe dort eine Weile und lausche den Liedern der Nonnen.
Der Hunger treibt mich zurück zum Wohnmobil. Wir haben weder Lust zu kochen, noch, die ganzen Treppen ein zweites Mal runter- und wieder raufzugehen und bestellen bei Ben´s Food Taco-Menüs, ohne zu wissen, ob in Frankreich mit Tacos das Gleiche wie bei uns gemeint ist. Ich beziehe meinen Spähposten auf dem Bett und überwache durch die Fenster die Auffahrt zum Berg.
Nach ein paar Nonnen, die über den Platz gehen, kommt auch schon ein knatterndes Mofa den Berg hoch mit unserem Essen. Wir machen es uns im Wohnmobil gemütlich und teilen uns die beiden unterschiedlichen Taco Menues. Es sind gefaltete Päckchen aus dünnen Pfannkuchen, die mit Hähnchenfleisch und La Gruyère Käsesauce und noch mehr Dingen gefüllt und dann gegrillt wurden. Während wir essen, dämmert es und die Basilika erstrahlt plötzlich vor unseren Fenstern in hellem Licht. Leckeres Essen und Mega Ausblick! Wow! Wow! Wow! Und nochmal wow!
Das sieht so schön aus und fühlt sich so gut an, hier heute die Nacht verbringen zu können.
Unser Fernsehabend wird untermalt vom stündlichem Glockenspiel und ich überlege, wie das wohl heute Nacht wird.
Aber nachts spielen die Glocken nicht. Wir schlafen tief und fest. Es fühlt sich mit den Lichtern hier oben ein bisschen wie eine magische Nacht an und ist mindestens genauso romantisch wie ein Kuss auf der Pont d’Amour.
Bei unserem nächsten Besuch zwei Jahre später wird es viel zu voll und verboten sein, dort zu übernachten. Daher verlinke ich hier den Parkplatz vor der Kathedrale gar nicht erst. Es gibt ja auch Campingplätze in und um Annecy.