Tag 10 Marseille

 

Wir steigen vorm Campingplatz in die Buslinie 78 und werden wir in 40 Minuten in Marseilles Innenstadt sein. Hannes muss im Hunderucksack mitfahren, findet es aber nicht schlimm, ein bisschen getragen zu werden, der kleine Prinz.

 

Im Bus zu sitzen und da draußen unsere Urlaubswelt vorbeiziehen zu sehen, fühlt sich nach all unserer wilden Freiheit in der Natur befremdlich an. Wir fahren im fast leeren Bus in einiger Höhe durch das Massif des Calanques und sehen getrennt durch die Busscheiben unsere eigentliche Welt da draußen, die Berge und das Meer vorbeiziehen.

 

Dann tauchen die Hochhäuser Marseilles in der Ferne auf. Ich setze mich aufrecht hin und mache mich bereit für die Zivilisation.  

 

 

Sobald wir in Marseille sind, drücke ich mir meine Nase an der Seitenscheibe des Busses platt. Bei einem Fußballstadion sehe ich Menschenansammlungen mit Fahnen, die zum Eingang des Stadions drängen. Sind das Fußballfans? Ne, niemals! Mit Regenbogenfahnen? Sehen aus wie Studenten. Ne, sind auch so viele ältere Leute in der Menge. Was machen die da?

 

 

Am Place Castellane steigen wir aus und ich halte Ausschau danach, welche Straßenbahn uns den Berg hoch zur Basilika Notre-Dame de la Garde bringen könnte. Mehrere Straßenbahnen stehen kurioserweise gerade mitten auf der Kreuzung geparkt. Die Straßenbahnführer stehen vor ihren Bahnen auf den Gleisen zusammen. In weißen Hemden und dunklen Hosen stehen sie da im Kreis und reden fröhlich lachend miteinander. Das wundert mich doch jetzt sehr! Was machen die da? Sie flachsen und schauen sich um. Hm, schnall ich nicht. 

 

Ich gehe hin und frage, wie wir zur Basilika hochkommen.

- Non non non, höre ich und sehe abwinkende Handbewegungen.

- La rue est fermée, sagt einer. Die Straßen sind gesperrt? Wie bitte? Zu Fuß sollen wir gehen. Sie ergänzen noch etwas, das ich nicht verstehe. 

 

 

Es geht daher anstatt den Berg links hoch, geradeaus zum alten Hafen. Wir müssen 1,7 Kilometer eine breite befahrene Straße entlang gehen und knabbern im Gehen ein Gebäckstück aus der Boulangerie de la Prefecture, deren Brötchenduft uns von der Straße geholt hat.  

 

 

Rechts von uns geht es ebenfalls den Berg hoch. Wie hügelig Marseille ist! Dort geht es zum Viertel Saint Julien, einem bunten und multikulturellen Viertel. Es ist schwierig sich zu entscheiden, aber der Hafen und das dahinterliegende Viertel Panier mit Streetart hat für uns Vorrang. 

 

 

La vieux Port - der alte Hafen -  ist Marseilles touristischer Mittelpunkt und dient heute als Freizeithafen. Bei Ankunft am Hafen wird unser Blick erstmal von einem riesigen Spiegelbaldachin versperrt.  

 

 

Das Gebilde nennt sich L`Ombrière und ist von einem Stararchitekten namens Norman Forster. Es soll Regen- und Sonnenschutz sein und das Licht reflektieren. Meinetwegen hätten sie es weglassen können. Der Hafen ist an sich schon sehr schön und braucht so etwas nicht. Da werde ich lieber nass bei Regen. Aber witzig finden wir es trotzdem, dass wir uns selber auf den Scheitel gucken können, wir drei Minipunkte. Und Hannes sieht aus wie ein Spiegelei.  

 

 

Als ich mich umsehe, wird mir schwindelig, weil ich anstatt Himmel den ganzen Hafenvorplatz doppelt sehe, einmal unten und einmal verkehrt herum oben.  Autos fahren auf dem Kopf und Menschen laufen mit dem Kopf mach unten. Mir wird schlecht. 

 

 

Dann entdecke ich eine Reihe Schachbretter auf dem Boden, vor denen Jugendliche und  junge Erwachsene sitzen. Es sieht so aus, als wenn sie zum Spiel um Geld einladen. Marseille hat eine eigene Schachvariante. Beim Marseiller Schach

führt man zwei Züge hintereinander durch, wenn man dran ist, aber wir gehen nicht zugucken, sondern gehen weiter zum Wasser. 

 

 

Wir schlendern herum und schauen uns um. Irgendwie herrscht hier Feierstimmung, aber wir verstehen nicht, was los ist. Und um das gesamte Hafenbecken haben sich Polizisten positioniert. Das kann ummöglich immer so sein hier! Im Netz finde ich auf die Schnelle keine Infos. 

 

 

Ein paar Fischer bieten ihre frischen Fische an.

 

 

Wir gehen rechts um das Hafenbecken herum und kommen an einer zwischen den Häusern eingebetteten Kirche, der Église Saint-Ferréol und ein Stück weiter am Rathaus vorbei. An der Straße reiht sich eine Außenterrasse an die nächste und es gibt viele Bars, Restaurants und Hotels mit verschnörkelten Balkonen. 

 

 

Auch hier beim Rathaus ist Polizeipräsenz und ein Filmteam baut Kameras und Stative auf. Es ist nett, hell und entspannt. Man merkt nicht, dass man in der zweitgrößten Stadt Frankreichs ist. 

 

 

In der Ferne ist hinter dem Hafenbecken der Hügel mit der Basilika Notre-Dame de la Garde, wo wir ja eigentlich zuerst hinwollten, gut zu erkennen. Wir gehen jetzt aber erstmal zum Panier-Viertel und danach werden wir nochmal versuchen, mit einer Bahn oder mit dem Bus zur Basilika hoch zu gelangen.  

 

 

Am Ende des Hafens gehen wir um eine Festungsanlage, das Fort Saint-Jean, herum. Hier ist es ruhig und die Sonne heizt uns inzwischen ganz schön ein. Der Himmel ist wieder himmelblau und das Mittelmeer türkis. Vom Meer kommt angenehm leichter Wind. 

 

 

Gleich hinter der Festung steht ein dunkelgraues modernes Gebäude, das das Museum der Kulturen Europas und des Mittelmeers beherbergt. Wir gehen daran vorbei und eine breite Treppe hoch zum Vorplatz der Kathedrale von Marseille, der Cathédrale la Major. Imposant strecken sich gleich mehrere Türme mit Kuppeldächern in den Himmel. In einen sehr hohen bogenförmigen Eingang strömen Besucher und ich reihe mich auch dort ein. Susi und Tatti warten lieber draußen in der Sonne. 

 

 

Es ist eine dreischiffiges Kirchengebäude mit Kuppeln und Bögen in fröhlichen Farben. Es hallt und verschiedenfarbige Steinlagen lassen die Wände fröhlich wirken.  

 

 

Die Stimmung ist auch hier irgendwie feierlich und die Wände und Skulpturen sind interessant anzusehen. Auch spüre ich wieder - wie so oft in Kirchen - ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. 

 

Frauen in Arbeitskitteln nesteln am Blumenschmuck herum, rücken große Vasen auf den Altaren zurecht, zupfen an den Blättern und wischen mit Putztüchern über den Altar. Es scheint ihnen wichtig zu sein, dass der Anblick perfekt ist, dass alles stimmt. Wie leidenschaftlich und hingebungsvoll sie ihren Job machen! 

 

 

Goldfarbene Stühle mit roten Samtbezügen stehen bereit. Den Stil der Kirche mit dem vielen Marmor und den Kuppeln finde ich sehr speziell. Er nennt sich neobyzantinisch. Der Stil wurde bewusst gewählt, um die Bedeutung Marseilles als Hafenstadt und Schnittpunkt zwischen Europa und dem Mittelmeer hervorzuheben. Und der kostbare Marmor soll die Bedeutung und den Wohlstand der Stadt widerspiegeln. 

  

 

Ich schaue mir in Ruhe alles an, finde die Farben der Malereien in den Türmen schön und fühle mich wohl. Einige Besucher

schauen versunken auf ihre Kerzen, die sie anzünden. Es ist ihnen anzusehen, dass dies ein bedeutsamer Moment für sie ist. Mich fasziniert diese Intensität, die bei den Menschen zu spüren ist und ich kann nicht wegsehen. Wie ein Freak starre ich die Leute an, aber Niemand scheint sich gestört zu fühlen. 

 

 

Beim Hinausgehen entdecke ich ein Streetartwerk an der gegenüberliegenden Hauswand. Wow!

 

Und Tatti und Susi finde ich neben einem geparkten LKW. Sie trauern gerade ihrem kleinen blechernen Reise-Aschenbecher mit Deckelchen nach, der kurz zuvor auf Nimmerwiedersehen unter den LKW gekullert ist. 

 

Susi ist schon sehr gespannt auf das Quartier du Panier ein paar Meter weiter, denn dort gibt vor allem jede Menge Streetart. Streetart gehört neben SanktPauli-Fußballspielen zu den wichtigsten Dingen in ihrer Freizeit. 

 

 

Der multikulturelle Stadtteil Le Panier bildet den ursprünglichen Stadtkern Marseilles und ist inzwischen durch die Masse an Streetart wie ein Openair Kunstmuseum. Wir steuern zuerst das Lädchen Underground an, wo bereits jede Menge Künstler die Wände mit ihren Werken verziert haben. 

 

 

Ich schaue mir die Wände an, gehe dann im Laden ein wenig stöbern und kaufe schließlich ein paar Postkarten und einen Marseille-Magneten. Dann lassen wir uns durch das historische und bunte Stadtviertel treiben. 

 

 

Streetartwerke sind allgegenwärtig, an Fassaden, an Stromkästen und an Regenrinnen, auf Schildern und Treppen, hinter jeder Ecke gibt es Murals (großflächige Wandgemäde), Stencils (Schablonenarbeiten), Mosaike oder Paste-Ups (kleine Werke aus Keramikstücken oder Papier) zu entdecken.

 

Stencils gefallen mir am Besten. Echt cool! Den Werken sieht man eine kulturelle Vielfalt an. Le Panier ist traditioneller Ankunftsort für Einwanderer.Bei den Bildern geht es um Marseille selber, um Migration, aber auch um Identität und Gemeinschaft, lauter große Themen finden Ausdruck an den Wänden. Aber manchmal geht es auch um nichts oder nur darum, lustig oder bunt zu sein. 

 

 

Und dazwischen sind spannende Waren in den kleinen Schaufenstern zu entdecken. In den Straßen stehen Pflanzen in Tontöpfen und zusammen gezimmerte Palettenbänke. Schmale Gassen und Treppen und lauschige Plätze laden zum Sitzen oder Abhängen ein. Es ist jetzt zwölf Uhr und die Leute verbringen ihren Mittag auf bunten Stühlen an kleinen Tischen und essen und trinken und reden und lachen.

 

 

Als Marseille vor zehn Jahren Kulturhauptstadt war, wurde das Viertel aufpoliert. Man wollte den Ruf als Hochburg der Kriminalität loswerden und hat dunkle Ecken aufgehübscht. Inzwischen kommen viele Touristen hierher und genießen den authentischen Charakter mit dem besonderen Reiz der Streetart-Werke auf historischen Gebäuden. In einer stark besuchten Gasse lese ich fuck tourists auf einem Regal. Schönen Dank auch! Du mich auch. 

 

 

Susi ist hin und weg vom Viertel und macht ganz viele Fotos. Tatti findet die ersten fünf Streetartwerke interessant und dann kommt sie eigentlich nur noch Susi und mir zuliebe weiter mit durch das Panier-Viertel.

 

Denn sie wäre schon längst wieder viel lieber irgendwo am Meer oder im Grünen. Sie ist in einem beschaulichen Ort an der ehemaligen Ostgrenze aufgewachsen. Und Susi in Berlin. Das ist der Unterschied.

 

Und ich gehöre nirgends und überall hin und finde meistens alles spannend.

 

 

Es ist hier wie in einem Freilichtmuseum voller Kunstwerke an den Wänden. Man kann auch Führungen mitmachen und sich alles erklären lassen. 

 

 

Ich stöbere in indivduellen Läden und entdecke viele besondere kleine Mitbringsel und kaufe mir einige wenige hippe Karten mit Motiven. 

 

 

Nach einer Stunde ist unser Kunst- und Farbenspeicher im Kopf voll und wir können nichts mehr aufnehmen.

 

 

Zurück am Hafen, sehen wir die Basilika Notre-Dame de la Garde natürlich wieder am gegenüberliegenden Ufer über den Häusern stehen. 

 

 

Wir wollen es nochmal versuchen, dorthin zu gelangen, gehen deshalb um das Hafenbecken herum und suchen eine Haltestelle. Vieleicht will auch nur ich es nochmal versuchen und Susi und Tatti trauen sich nicht zu sagen, dass sie nicht mehr dorthin wollen, weil sie merken, wie wichtig es mir ist.

 

Ich bin manchmal wie so ein kleiner Terrier, der sich an etwas festbeißt. Ich kann dann auch nicht einfach umschwenken. Und wenn man etwas wirklich kennenlernen will, muss man seine Komfortzone verlassen, finde ich. 

 

 

Auch an der gegenüberliegenden Hafenseite steht wieder jede Menge Polizei. Alle paar Meter ein Grüppchen. Jetzt will ich endlich wissen, was hier los ist.

- Wartet mal kurz, sage ich und gehe zu einer Gruppe junger uniformierter französischer Polizisten. Ich richte mich an einen der Männer.

- Pourqoi est la police ici? frage ich.

Grammatikalisch wahrscheinlich verbesserungswürdig, aber an sich müssten die Vokabeln stimmen. Warum ist die Polizei hier, sollte das heißen. Er schaut mich verwundert an und lacht. Hä? Hat der mich doch nicht verstanden? Dann sagt sein Kollege was Französisches zu mir. Ich schaue jetzt ihn an, strenge mich an, kann aber nur das Wort Visite heraushören. Ah, Jemand zu Besuch.

- Do you speak Englisch? versuche ich es jetzt.

- Pap, sagt er und schaut mich fragend an. Was zum Teufel meint er?  

Dann wiederholt er es. Dieses Mal etwas energischer.

- Pap! 

Da fällt endlich der Groschen bei mir!

- Pap? frage ich erstaunt und mit großen Augen und bilde mit meinen Händen einen Papsthut über meinem Kopf. Er nickt.

- Wow! sage ich. Krass, denke ich. Jetzt verstehe ich auch endlich das Polizeiaufgebot und die Aufgeregtheit einiger Menschen hier.

 

Tolles Gespräch. Pap. ... Pap. ... Pap. 

 

 

Jetzt will ich natürlich erst recht zur Basilika! 

- Ist bestimmt voll da, sagt Susi. Ich überrede sie trotzdem. Wir laufen und laufen und laufen und die Straße an der Längsseite des Hafenbeckens wird immer länger. Irgendwann finden wir eine Bushaltestelle, aber die Straße ist total leer und wir vermuten, dass der Bus heute gar nicht kommt.

 

Also marschieren wir zu Fuß los den Berg hoch und schon das erste Streckenstück ist so supersteil, dass wir unmittelbar ins Schwitzen kommen. Wie spannend, der Papst, denke ich und das treibt mich an. Vor meinem inneren Auge sehe ich schon, wie er uns zuwinkt.

 

Dann rufen meine Begleiterinnen von hinten, dass sie da nicht hoch wollen. Mist, jetzt muss ich mich zwischen dem Papst und den Beiden entscheiden. Schwierig! Ich schaue den Berg hoch. Dann zurück. Alleine durch Marseille streunen will ich nicht. 

 

Hm, sehr schade, aber ich schließe mich letztendlich den beiden an und wir biegen bei der nächsten Straßenkreuzung links ab und treten den Rückweg Richtung Place Castellane an. Nun gehen wir durch ein Viertel mit gehobeneren Geschäften, Restaurants und Cafés.

- Der Papst wird sowieso überbewertet, sage ich leise und maulig vor mich hin ohne hochzugucken. 

- Was? fragt Tatti.

- Ach nichts, sage ich. Der Urlaub zu dritt fordert auch manchmal seine Opfer. Bedürfnisse sind nunmal unterschiedlich.

 

Es läuft schon vieles nach meiner Nase und das soll auch so bleiben. Also will ich die Geduld und Toleranz der beiden nicht überstrapazieren.   

 

 

Wir gehen zurück zum Place de la Castellane und warten eine Ewigkeit an der grauen Hauswand inmitten von Auspuffgasen auf den Bus zurück. Wir sind durstig und haben knurrende Mägen. 

 

Im Bus recherchiere ich, ob das mit dem Papst stimmt. Tatsächlich!  Er ist heute und morgen in Marseille! Seinetwegen kamen wir nicht auf den Berg, denn er ist in diesem Moment bei der Basilika. Ich werfe Tatti und Susi heimlich einen strafenden Blick zu und lese weiter. Gleich wird der Papst noch eine Messe im Station halten. Aha, daher also die ganzen Menschen vorm Stadion heute Morgen! Und dann wird er sich auch noch mit Staatspräsident Emmanuel Macron treffen. Wohoo, ein großer Tag für Marseille und wir Landeier sind aus Versehen und völlig ahnungslos mittendrin! 

 

 

 

Abends im Bett lasse ich den bunten Tag nochmal Revue passieren. Ich sehe mich noch einmal mit den Händen eine Papstmütze formend bei den weißen Booten zwischen den Polizisten stehen als endlich mein Groschen fiel.

 

Ich liege im Dunkeln im Bett und muss lächeln. Die Sonne schien und die jungen Männer lachten. Und in der Ferne konnte man vom Hafen aus den Turm der Basilika auf dem Hügel sehen. Wundervoller Reisemoment! Werde ich nicht wieder vergessen. 

 

Gute Nacht Papst, da hinten hinter dem Hügel!