Die Nacht in den Bergen war wieder schön ruhig und die ganze frische Bergluft von gestern ließ uns bleischwer schlafen. Ausgeruht und entspannt beginnen wir den neuen Tag am rauschenden Fluss.
Heute ist Jojos 26.Geburtstag, meine Kleine ist schon so groß! Wir haben doch gerade erst die Sweet Sixteen gefeiert! Ich telefoniere mit ihr per Video und ich freue mich auf die Umarmungen und den Geburtstagskuchen, wenn wir wieder zuhause sind. Tatti und Susi schicken ein Glückwunsch-Selfie und ich mache mir fast in die Hose vor Lachen als ich die zwei da draußen an der Isère mit dem Handy entdecke.
Von unserer Pont Saint-Charles bis zur Passhöhe sind es elf Kilometer. Kurz nach neun starten wir. Es geht weiter gen Süden und gleich bergauf. Der Tag wird nicht so besonders schön, aber noch ahne ich nichts und bin guter Dinge.
Voller Tatendrang genieße ich die tollen Ausblicke auf unserem Weg nach oben.
Weit unten können wir in der Ferne hinter uns den Ort Val d´Isère liegen sehen, wo wir gestern eingekauft haben.Bei uns Nordlichtern zuhause ist der Blick zum übernächsten Dorf undenkbar, außer man sitzt auf der Kirchturmspitze.
Wir fahren durch eine grün-graue Landschaft, die im Dunst liegt. Um uns herum herrscht mystische Stimmung.
Und dann sind wir oben auf der Passhöhe, auf 2.770 Metern. Hier ist ein großer Parkplatz. In der Mitte an der Straße steht das bezauberndste Passschild, das ich je gesehen habe und sehen werde.
Es dient - zurecht - als beliebter Spot für ein Foto zusammen mit dem Motorrad, Auto oder - so wie bei uns - Wohnmobil.
In einiger Entfernung stehen ein paar Camper, die hier offensichtlich übernachtet haben. Es gibt eine Schutzhütte und eine Steinkapelle, die Notre-Dame de Toute Prudence, die mit ihren grauen Steinen und einem hohen Turm perfekt her passt. Den Turm ziert eine ebenfalls sehr hohe auffällig helle Heiligenfigur. Ich fasse den Türgriff der kleinen Kapelle an. Verschlossen. Ich gehe weiter zum südlichen Berghang und betrachte ein kleines Feld mit aufgeschichteten Steinmännchen.
Ich habe heute keine Lust, selber auch eines dazuzubauen und schlendere zurück zur Kapelle.
An einem niedrigen Eisenzaun neben der Kapelle hängt das Foto einer lachenden jungen Frau mit langen dunklen Haaren und Sonnenbrille. Sie hat Motorradkleidung an. Darauf steht In loving memory Mara. Ich muss schlucken. Ist sie hier ums Leben gekommen? Oder wollte sie gerne mal hierher fahren?
Mara erinnert mich daran, schöne Dinge nicht auf morgen oder auf irgendwann zu verschieben. Und darum ist es auch genau richtig, dass wir hier unterwegs sind. Und sie erinnert mich daran, dass es nicht selbstverständlich ist. Wie dankbar sollten wir sein, dass alles, was wir machen, möglich ist? Sehr dankbar, würde ich sagen. Bin ich auch.
Als ich wieder aufschaue, sehe ich, dass sich in Sekundenschnelle dichter Nebel auf den Platz gelegt hat. Plötzlich kann ich Susis weißen Bulli gerade noch so sehen, aber unser Wohnmobil wurde samt Tatti von einer dichten Nebel-Wolke verschluckt. Irgendwie unheimlich!
Nachdenklich gehe ich zurück zu Tatti in ihre Wolke. Tattis guckt sehr ernst. Was hat sie?
Wir haben was verloren, sagt sie und weist auf den rechten Vorderreifen. Ich sehe, dass eine kleine Abdeckung fehlt.
Die war heute Morgen noch dran, ergänzt sie.
Oh Mist, lass uns das Stück doch nochmal zurückfahren, sage ich. Das will sie aber nicht.
Ich gehe zurück zum Pass-Schild und spreche zwei Motorradfahrer mit deutschen Nummernschildern an, die aus der entgegengesetzten Richtung kamen, ob sie mich anschreiben können, wenn sie das Ding sehen, und gebe ihnen meine Handynummer. Ja, klar machen sie das, sagen sie. Motorradleute sind meistens coole Menschen. Zumindest die, denen wir normalerweise begegnen.
Jetzt stehe ich vor den Schautafeln mit den Regeln des Naturschutzgebietes und lese, dass das Campen verboten ist. Ähem. Huch. Etwa auch bei der Pont Saint-Charles? Das kann nicht sein! Der Platz wird in all meinen Apps als Schlafplatz genannt.
Wir beschließen zu warten, bis der Nebel wieder weg ist. Wolken ziehen ja eigentlich weiter. Diese aber nicht. Tatti konzentriert sich auf ihr Handy und bestellt die verloren gegangene Abdeckung zu uns nach Hause. Danach fällt uns ein, dass wir schonmal aus einer Wolke, die auf dem Berg festhing, herausgefahren sind. In der Nähe der Verdonschlucht.
Also starten wir trotz schlechter Sicht. Wir können gerade so die Straße sehen, sonst nichts. Schade. Aber wenigstens die Straße. Ich hoffe inständig, dass es nicht schlimmer wird.
Dann kommen wir zum Glück aus der Wolke heraus und landen in der nächsten mystischen Szenerie. Mit Nebelschwaden, Hügeln, Felsen, diffusem Licht und einem Fluss. Und wir nähern uns einem Haus in Alleinlage. Wofür das wohl gebaut wurde? Sieht aus wie ein Wohnhaus. Die Fensterläden sind geschlossen, zum Hauseingang führt eine Treppe hoch. Da würde auch gut so eine gruselige alte Frau mit fiesem Blick reinpassen. Oder die Rocky Horrer Pictureshow.
Aus nächster Nähe wird das Haus etwas einladender mit einem Bach, dem Berg im Rücken und einer kleinen Brücke.
Bonneval-sur-Arc
Der Pass verbindet den Ort Val d´Isere mit dem kleinen unter Denkmalschutz stehenden authentischen Skiörtchen Bonneval-Sur-Arc, das das Label Plus Beaux Villages de France hat, also zu den schönsten Dörfern Frankreichs zählt. Ich bin gespannt! Wir stellen die Fahrzeuge am Dorfrand ab und sind in wenigen Schritten im ausgestorbenen Zentrum.
Urige uralte Häuser mit Schieferdächern und Holzbalkonen, enge Gassen, Blumenschmuck an den Fenstern und geschichtetes Holz verbreiten nostalgische Stimmung. Auf dem leergefegten Dorfplatz ist ein Café. Dort sitzen zwei ältere Franzosen mit einer Tasse am Tisch und starren uns an. Wir irren herum und suchen einen Bäcker, der hier sein soll. Wir finden ihn in einem Durchgang, aber der Laden ist leergeräumt. Hm. Hier ist offensichtlich gerade keine Saison.
Bonneval-sur-Arc ist ein beliebter Drehort und gilt als Perle der Maurienne. Die Maurienne ist das Gebiet um dieses Tal, durch das der Fluss Arc fließt. Es wird auch gesagt, dass Bonneval-sur-Arc am Ende der Welt liegt. Und das fühlt sich - ehrlich gesagt- gerade auch so an.
Was hättet ihr mir wohl alles zu erzählen, ihr hübschen Häuser ihr? Ich stelle mir das Treiben im Winter vor, mit all den Gästen und einer dicken Lage Schnee in den engen Gassen.
Und dann muss ich an das Musikvideo meines Lieblingsliedes Perfect von Ed Sheran denken. Träumend und mit Ohrwurm bummele ich hinter Tatti und Susi her und mache ganz viele Fotos.
Die Berge passen toll zu diesem urigen Ort am Ende der Welt. Sollte ich nicht vielleicht doch nochmal Skiurlaub machen? Hmmm.
Tal der Haute Maurienne
Susi und ich stöbern in einem Souvenirladen, dessen Ware geprägt ist vom Ski-Tourismus. Ich kaufe ein Magnet und wir fahren weiter durch das Tal der Haute Maurienne Richtung Col du Télegraphe, der als nächstes dran wäre. Aber nur wäre.
Im Ort Lanslevillard stoppen wir vor einer Bäckerei und decken uns mit Brotwaren und Gebäckstücken ein. Ich will nachher Jojos Geburtstag (meine erwachsene Tochter) mit Geburtstagskuchen feiern.
In der Boulangerie Patisserie Bernard lasse ich mir einen monströsen Schokokuss mit dem Namen Boule Choc, zwei extravagante Muffins mit einer Welle aus Schokolade darauf und traditionell Savoyardisches Baguette einpacken und zahle rund acht Euro. Savoyardisches Baguette ist rustikaler, aromatischer und mit kräftigerer Kruste als herkömmliches französisches Baguette. Sehr zu empfehlen!
Unsere Weiterfahrt geht am Fluss Arc entlang und wir suchen einen netten Picknickplatz, an dem wir uns trotz Regen wohl fühlen können, also am Besten mit ein bisschen Weitsicht vielleicht.
Es geht durch ein paar Orte, immer geradeaus auf der D1006 Richtung Col du Télegraphe. Der Tag bleibt grau.
Am Ortsausgang von Val Cenis steuern wir einen Picknickplatz oberhalb des Flusses Arc an. Er besteht aus Matsch und befindet sich zwischen Leitplanken, hohen Bäumen und der Straße. Eine kleine überdachte Picknickhütte mit Tisch und Bänken gibt es auch. Sie soll vor allem Radlern und Motorradfahrern zum Unterstellen bei Regen dienen.
Aber man kann nur Matsch und Straße sehen. Wir gucken uns mit gerümpfter Nase durch die Autoscheiben an und schütteln die Köpfe. Also weiter.
Fünf Kilometer weiter in Les Glières entscheiden wir uns schließlich für einen Picknickplatz am Fluss, dem Platz Bramans. Dort gibt es auch so eine überdachte Picknickhütte, aber ohne Matsch und mit Blick auf den Fluss. Den Tisch decken wir reichhaltig und wir sitzen beim Essen trocken, während der Regen um uns herum niederprasselt und den Rasen aufweicht.
Ein Blick auf die Wetter App und den Regenradar verheißt nichts Gutes für diese Gegend. Schnell sind wir uns einig, dass wir bei dem Regen keinen weiteren Pass fahren wollen. Wir werden dem schlechten Wetter entfliehen und im Bogen über die Verdunschlucht zum Mittelmeer fahren.
Mit links halte ich mein Baguette, mit rechts tippe ich Castellane du Roc ins Handy. Die schnellste Route beträgt 280 Kilometer, dauert aber über vier Stunden. Das ist uns zu lang für heute. Wir werden erstmal nur die Hälfte fahren, bis Briançon oder vielleicht bis zum Lac de Serre Ponçon. Mal sehen. Den See kenne ich auf jeden Fall und weiß, dass er toll ist.
Ich sehe, dass der schnellste Weg dorthin durch Italien führt. Wie cool, Leute, sage ich, ahnungslos wie ich da noch bin. Auch Susi freut sich (noch) über eine zwangsläufige Stippvisite in Bella Italia und flötet Gelato! Gelato!.
Bei der Weiterfahrt taucht nach vier Kilometern durch den Wald rechts von uns eine Burg auf einem Felsvorsprung auf. Es ist das Fort Victor-Emmanuel und sieht von hier unten beeindruckend aus, aber besuchen wollen wir es nicht. Schließlich wollen wir weg aus dem Regen.
Tunnel Routiers du Frèjus
Voller freudiger Erwartung fahren wir auf die italienische Grenze und das Mont Cenis-Massiv zu und müssen an einer Bezahlstelle stoppen. Dort ist ein kleiner Stau. Es sind nur zwei von sechs Spuren geöffnet. Während wir warten, sehen wir, dass wir durch einen Tunnel müssen. Aha, Tunnelmaut zahlen also.
Als wir an der Reihe sind, fallen wir aus allen Wolken. 68,10 Euro!! Wie bitte, was? Das will ich auf gar keinen Fall bezahlen müssen! Ich reagiere schnell und beuge mich vor zum Fahrerfenster und an Tattis Nase vorbei.
- Could we turn around here?
- Sssst! Tatti zischt mich an und schiebt mich weg.
- Ne, wieso, frag doch. Ist doch scheiße, so viel Geld!
Der Kassierer hat mich nicht verstanden. Was heißt Umdrehen auf Französisch, verdammt? Ich schaue hektisch in meinen Seitenspiegel. Hinter uns versperren Susi und die anderen wartenden Autos den Weg.
- Susi muss nur ein bisschen zurücksetzen, sage ich zu Tatti.
- Nein! sagt Tatti dann und zahlt einfach. Sie hasst solche Eskapaden.
- Du kannst hier nicht einfach wenden! ergänzt sie, drückt mir unwirsch den Bon in die Hand und gibt Gas.
Ich sehe das immernoch anders. Aber es ist eh zu spät jetzt.
Fréjus-Tunnel im Mont-Cenis Massiv
Ich starre auf den Bon und rege mich auf. Und zwar sehr! Über Tatti. Über die unnötige Geldausgabe! Und über mich. Letzteres am meisten! Wie soll ich das bei Susi nur wieder gut machen?
Und dabei habe ich im Umfeld des Montblanc so sehr auf die Vermeidung des dortigen Tunnels geachtet, weil ich wusste, dass er unsagbar teuer ist. So teuer ist es übrigens, weil sie nach einer verheerenden Brandkatastrophe im Mont Blanc Tunnel ordentlich in die Sicherheit investiert haben. Von diesem zweiten teuren Tunnel hier hatte ich allerdings keinen blassen Schimmer.
Jetzt starre ich auf die vorbei fliegenden Lichter des Tunnels. Siebzig Euro für einen Tunnel nach Italien! Ich stütze meine Stirn mit den Fingerspitzen meiner linken Hand ab und bewege nur noch meine Pupillen von Tatti zur Fahrbahn vor uns und runter zum Bon in meiner rechten Hand und dann das ganze nochmal. Italien! Siebzig Euro! Wo wir nicht mal hin wollen! Ich sterbe!
- Ist passiert, sagt Tatti, nüchtern wie sie die Dinge eben so sieht. Lässt sich nicht mehr ändern.
- Warum hast du nicht gewendet? frage ich mit nettestmöglicher Stimme.
- Ging nicht, grummelt sie.
- Doch, entgegne ich.
- Hast du doch gesehen, sagt sie. Ne, habe ich eben nicht. Ich habe nur gesehen, dass wir sehr wohl noch hätten wenden können. - Eben! brumme ich deswegen.
Wir drehen uns im Kreis. Zwei unterschiedliche Sichtweisen. Nichts zu machen.
Nach zwölf Kilometern im Dunkeln des ollen Tunnels und zwölf Minuten Fahrtzeit werden wir in Italien in den Nebel gespuckt. Nichtmal Sonne. Blödes Italien. Gleich hinterm Tunnel lässt uns unser Navi rechts abbiegen und wieder Richtung Frankreich, zu einem Grenzübergang etwas weiter südlich, fahren.
Ich suche fieberhaft im Handy nach einer Eisdiele in der Nähe einer Abfahrt. Wir sollten wenigstens ein italienisches Eis essen. Da gibt es aber nichts. Es hat keinen Sinn. Aber dafür flammt jetzt doch eine unbändige Italiensehnsucht in mir auf, so dass ich mich im nächsten Jahr bei Tatti und Susi für Italien einsetzen und in buchstäblich letzter Sekunde auch durchsetzen werde. Aber das ist eine andere Geschichte. Die kommt noch.
Hier im Piemont ist es heute einfach nur doof, nur Straßen und Regen. Das ist nicht Italien. Ein Kreisel. Dann ein Schild. Rechts nach Frankreich. Noch sieben Kilometer. Hoffentlich wird das Wetter wieder besser!
Hoppala, schon wieder ein Pass, der Passo del Monginevro. Und auch gleich wieder rein in die Wolke. Wenigstens kein Tunnel, ich hatte schon Angst. Eine Wolke hatten wir ja heute auch schon. Wir werden also gleich gar nichts sehen können von der Überfahrt zurück nach Frankreich. Ich habe schlechte Laune.
Überall nur Bäume. Und Nebel. So wie auf diesen seit einiger Zeit angesagten Ikea-Wandbildern. So eines haben wir auch im Flur hängen. Bescheuert, dass wir uns das gekauft haben. Schmeiße ich nach dem Urlaub weg!
Ich will eigentlich nicht so eine Miesmuschel sein. Ich muss meine übertrieben negativen Gedanken ganz schnell wieder umswitchen in hilfreiche Gedanken. Dass das geht, weiß ich eigentlich. Und dass ich mich gerade so richtig schön in meine miese Stimmung hineinsteigere, weiß ich auch.
Jetzt ist auch noch ein hässlicher LKW vor uns! Wie nervig! Hm. Klappt ja super mit meiner Gedankenarbeit.
Nach wenigen Minuten passieren wir oben in den Bergen die Grenze zurück nach Frankreich. Französische Grenzbeamte beäugen uns.
Bei der Fahrt wieder hinunter vom Scheitelpunkt klart es auf. Aber was soll ich sagen, passend zum Tag ist kein einziges schönes Foto vom Pass del Monginevro drin. Der dumme weiße LKW ist nämlich ständig im Bild. Er ist eine Zecke!
Kannst du dich mal zurückfallen lassen bitte? frage ich Tatti nach einiger Zeit. Der LKW nervt.
Tatti stöhnt. Leider passen meine Fotoleidenschaft und Tatti nicht immer ganz ideal zusammen.
Aber sie geht dann doch vom Gas. Aber nicht wirklich. Nur ganz kurz.
Der Blick auf Briançon stimmt mich schließlich doch noch um. Es kommt was Neues, das ist toll und spannend! Und so rollen wir frohen Mutes hinunter ins Tal, ins Vallee Briançon.
Später werde ich feststellen, dass wir über die nächsten beiden französischen Pässe nach Briançon gelangt wären. Ohne Italien. Und ohne Mautkosten. Das hätte anstatt unserer teuren Italien-im-Regen-Stunde auch nur zwei nette Fahrstunden auf der Route des Grandes Alpes gedauert. Tja. Shit happens.
Susi, wenn du das hier liest, ich habe mich nicht getraut, es dir zu erzählen, dass es über die Pässe auch nur zwei Stunden gedauert hätte. Jetzt weißt du es und es tut mir aufrichtig leid! Ich wusste es nicht. Ich werde dir bei nächster Gelegenheit ein italienisches Zabaione-Eis ausgeben. Asche über mein Haupt!
Briançon
Von Briançon sehen wir erst nur die Festung links von der Straße und dann den Parkplatz. Dort gibt es ein paar spezielle Parkbuchten für Wohnmobile, auf denen man auch übernachten dürfte. Susi ist so nett wie immer und meckert gar nicht über die Gebühr. Echt lieb. Wir besprechen, ob wir in die Stadt gehen wollen.
Dreißig Minuten Parken sind gratis. Eine kurze Runde durch die Altstadt könnten wir schaffen in dreißig Minuten. Bei dem Wetter reicht das auch. Also stellen wir unsere Parkuhren und stiefeln los. Schlafen wollen wir hier nicht.
Es sind nur ein paar Schritte bis zum Stadttor.
Ich war früher mal hier. Das ist sehr lange her. Ich schaue die graue Straße hinunter. Ich hatte Briançon irgendwie schöner in Erinnerung. Damals war ich im Juli hier, die Sonne schien und überall war buntes Treiben. Heute wird definitiv nicht mein Lieblingstag.
Die glänzende Straße geht steil bergab und ist rutschig. Regen prasselt auf unsere Kapuzen und läuft über unsere Schultern an uns herunter. In den Schaufenstern gibt es Alpen-Souvenirs. Hach ja, seufze ich in mich hinein. Ich will zurück auf den Berg! In die Einsamkeit! Zu den Murmeltieren!
Bei der Pâtisserie Turin sehe ich Berge mit in Schokolade getunkten großen Sahnebaiserstücken im Fenster. Weil es immernoch regnet, holen wir uns für 1,70 Euro zum Trost Meringue Chocolat und auch gleich einen Ganache Noire (Monster-Trüffel) für die kleine Geburtstagstafel nachher.
Wir stellen uns in einen Hauseingang und essen unsere Baiserstücke. Der Regen tropft von unseren Kapuzen auf unsere Hände, unsere Baiserstücke und auf Hannes´ Fell und nach dem Essen auf die Zigaretten. Alles wird nass. Durchweichtes Baiser. Durchweichtes Zigarettenpapier. Und die Baiserstücke waren viel zu groß und jetzt ist mir schlecht.
Läuft also immernoch superrund, der Tag.
Ich nehme mir heute zum zweiten Mal vor, positiver an die ganze Sache heranzugehen. Ich will von jetzt an echt nicht mehr wegen Regen oder wegen Tunnelgebühren rummuffeln.
Die Gebäckstückchen in der Auslage bei der Patisserie sind der Hammer! Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen.
Zartfarbene Wimpelgirlanden schmücken die Straßen und einige Läden bieten Schwämme, Seifen und Bürsten, Lavendel und Souvenirs an.
Unten angekommen, entscheiden wir uns gegen den Besuch der Festung, die auf dem gegenüberliegenden Berg liegt. Aber bei dem Wetter ist die Vorstellung nicht einladend. Zurück zum Stadttor müssen wir wieder stramm bergauf gehen.
Mit meiner bewusst positiveren Sichtweise wird Besançon und der Tag dann doch noch ein bisschen bunter. Funktioniert also doch, das kognitive Umstrukturieren. Man muss nur wollen. Und Sahnebaiser essen.
Lac de Serre-Ponçon
Von Briançon bis zum Lac de Serre-Ponçon brauchen wir eine knappe Stunde. Der Stausee liegt fast trocken. Es sind weit und breit nur Kiesflächen und in der Mitte ein wenig Wasser zu sehen. Ich hatte ein türkisblaues Wunder erwartet, so wie 1990, als ich mit einem beige-braunen 80er-Jahre-Mietwohnmobil über die Berkuppe hierher kam.
Wenigstens ist hier am Südufer ein Wohnmobilstellplatz der Kette Camping-Car Park. Die Plätze sind immer ordentlich und unsere Zugangskarte mit genügend Guthaben liegt im Handschuhfach. Die Schranke geht hoch und wir sind auf dem netten Platz in ruhiger Lage von Crots am Südufer des Stausees. Im Hintergrund Berge und der See nur ein paar Schritte entfernt.
Jetzt müssen wir nur noch eine Zugangskarte für Susi kaufen und sie aufladen, finden aber keinen Automaten dafür. Mist, verflixter! Susi steht mit ihrem Bulli vor verschlossener Schranke. Und nun?
Zum Glück hilft uns ein französiches Paar, ruft für uns die Hotline an. Es dauert und dauert und Susi steht bereit direkt vor der geschlossenen Schranke und die Französin legt sich ins Zeug.
Ein deutsches Wohnmobil nähert sich von hinten. Nach ein paar Minuten steigt der Mann aus und meckert uns an. Ich meckere zurück. Der Mann hat kein Verständnis. Typisch deutsch.
Dann öffnet sich die Schranke und Susi fährt auf den Platz. Endlich! Wie sie ohne Zugangskarte wieder vom Platz kommt, sehen wir morgen.
Ankommen tut gut, gerade nach diesem doofen Tag. Wir richten die Wohnmobile gemütlich her, ich zünde mein katalonisches Kerzlein an, koche Kaffee, schenke mir einen Geburtstagswein ein und wir essen die Geburtstagsküchlein. Es ist gemütlich und nett. Jetzt wird bestimmt alles wieder gut.
Danach spaziere ich zum See. Es ist eine kleine Reise in die Vergangenheit. Ich habe am gegenüberliegenden Ufer als sehr junge Frau mehrere Sommer hintereinander verbracht. Wir haben dort drüben am Hang wild gecampt, mein damaliger Verlobter, späterer Mann und ich. Wir waren eine kleine eingeschworene Truppe damals, zusammen mit einer irischen Familie, einem niederländischen Paar mit Harley Davidson und Beiwagen und Ludo und Liesbeth mit ihrem Sohn Ludo, ebenfalls Holländer.
Wir hatten unbeschwerte Sommer in der Natur, erst mit Mietwohnmobil, später mit einem Zelt-Anhänger. Ich erinnere mich vor allem daran, dass wir Trivial Pursuit in drei Sprachen mit verschiedenen Fragekästchen gespielt und viel gelacht haben. Und dass ich stundenlang auf der Luftmatratze auf dem Stausee trieb mit einem Band um mein Fußgelenk und einem Felsstein als Anker. Und dass Lebenszeit noch unendlich war.
Ich gehe hinunter bis zum Wasser, über weite trockenliegende Teile des Sees. Ich weiß noch, wie mein inzwischen Ex-Mann seinen Verlobungsring beim Schwimmen verlor. Oh, wie traurig wir waren! Er war aus dem Gold der Eheringe seiner verstorbenen Großeltern gefertigt. Wie verrückt es wäre, wenn ich ihn jetzt im trockengelegten See entdecken würde!! Ich scharre ein paar Kieselsteine mit dem Fuß hin und her.
Plötzlich höre ich laute Musik, mystische Klänge, Enya. Ich drehe mich um, sehe aber Niemanden! Woher kommt die Musik? Dann merke ich, dass mein Handy sich mal wieder selbständig gemacht hat, so wie damals in Annecy. Enyas Gesang kommt also aus meiner Jackentasche. Ich muss lächeln. Irgendwie magisch.
Ich scanne das gegenüberliegende Ufer mit meinen Augen ab und suche nach etwas Bekanntem, einem Baum oder Felsen oder Weg, als mein Handy piept. Es ist ein Foto von der Geburtstagsrunde in Deutschland, auf dem unsere gemeinsamen Töchter und Enkel und auch mein Ex-Mann selber zu sehen sind. Was für ein Zufall, ausgerechnet in diesem Moment schicken sie das Bild. Es geht meinem Ex-Mann zum Glück gut, auch ohne unseren Verlobungsring. Und ohne mich.
Nach einer Weile wende ich mich zum Gehen und vertraue den goldenen Ring weiterhin dem Lac de Serre-Ponçon an.
Das Abendessen fällt wegen unserer heutigen Völlerei mit Süßkrams aus. Wir sehen noch ein wenig fern, schließen alle Rollos und gehen schlafen. Frankreich ist so schön vielfältig!
Morgen geht es weiter gen Süden. Ich bin gespannt, wie Susi die Verdonschlucht finden wird und wie Marseille so ist und freue mich auf die charmant-französischen Dörfer der Provence! Die Wetter-App verheißt sehr Gutes für die nächsten Tage und ich schlafe mit der Vorfreude auf blauen Himmel und Sonnenschein ein.